Was mich bewegt …

Maria-Anne Gallen: Gedanken, Erfahrungen, Einsichten

Achtsames Innehalten

3 Kommentare

Als ich vor einigen Jahren begann, meine Praxis-Homepage zu gestalten, wählte ich dieses Bild zur Illustration meiner Focusing-Website und schrieb dazu folgende Worte:

… dem Fluss des eigenen Erlebens folgen, nach innen spüren und achtsam werden für die Weisheit des Körpers…
… dem schon Gespürten, aber noch nicht klar Gewussten Aufmerksamkeit schenken…
…. Bedeutungen, die aus dieser Art von Achtsamkeit entstehen ernstnehmen, sich davon leiten lassen im Umgang mit sich selbst, mit anderen, mit den Anforderungen des Alltags…

Man könnte auch sagen, Focusing ist eine Praxis der Hingabe an den eigenen Erlebensfluss. Wann immer etwas unklar ist und sich erst zeigen möchte, „befragen“ wir unser eigenes Körper-Spüren und finden dort Antworten für nächste Impulse. Genauso wie in dieser neuseeländischen Flussebene (die übrigens nicht weit von der erdbebengebeutelten Stadt Christchurch auf der Südinsel des Landes zu finden ist), kann sich dieser „innere Strom“ in verschiedenen Bahnen und Windungen entwickeln.

In der Anwendung dieser Vorgehensweise wurde ich jedoch bald ernüchtert. Mir wurde sehr schnell bewusst, dass unsere Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb deutlicher Grenzen und Begrenztheiten statt finden. Der Traum von grenzenloser Freiheit war ausgeträumt und das Erforschen der „inneren Gefangenschaften“ begann.

Charaktermuster

Der Fluss ist begrenzt durch sein Flussbett, war die Metapher, die wir in unserer Focusing-Community Ende der 80er und Anfang der 90er-Jahre für diese Phänomene verwendeten und wir begannen, uns mit Modellen zu beschäftigen, um diese Struktur-Gebundenheiten in die Wahrnehmung zu bekommen. Als Psychotherapeuten wählten wir dafür die bekannten Charakterbeschreibungen nach Wilhelm Reich (einem abspenstigen Schüler Sigmund Freuds).

An diesem Punkt begann für mich die De-Konstruktion und das Hinterfragen meiner Ich-Strukturen. Sie begann mit der Erkenntnis: Ich habe ein Charaktermuster, aber ich bin das nicht. Irgendwann landete auch ich in dieser Beschäftigung bei der „Quelle“ in meinem Erleben, in die jeder Ich-Gedanke unweigerlich zurück kehrt, wenn man ihn nur lange genug beobachtet.

Die Reichianischen Typen-Beschreibungen waren, wie alle Modelle, die aus therapeutischen Zusammenhängen stammten, ziemlich pathologisierend. Wir benutzten hier Begrifflichkeiten wie „schizoid“, „oral“, „hysterisch“, „masochistisch“, „rigide“ etc. Dankbar griff ich nach dem Enneagramm, als es 1990 in meinem Umfeld auftauchte.

Das Aussteigen aus dem Muster

Anfang der 90er-Jahre unterrichtete ich, gemeinsam mit meinem Focusing-Lehrer Johannes, eine Gruppe von angehenden Focusing-TherapeutInnen. Wir hatten zwei Jahre Zeit, die Wirkungsweise unserer Charakter- und Beziehungsmuster im therapeutischen Kontext gründlich zu studieren. Natürlich wollten wir dabei auch heraus finden, wie denn nun der „Ausstieg“ geht. In dieser Zeit kreierten wir eine Übungsform, die wir die „Paradoxie-Übung“ nannten:

Über die Jahre hinweg entwickelte ich verschiedene Anleitungen dazu, das Grundprinzip blieb aber immer gleich: Beobachte den ersten Impuls, der in dir entsteht, wenn du „in guter Absicht, hilfreich zu sein“, eine Handlung ausführen möchtest. Dann entscheide dich, genau das nicht zu tun und warte … (das Innehalten). Halte den (meist eher unangenehmen) Moment der Unsicherheit und Hilflosigkeit aus, der aus dem bewussten Innehalten entsteht (das ist das Schwierigste!). Dann wirst du merken, dass aus diesem Nicht-Handeln ein neuer Impuls geboren wird. Führe ihn aus …

Mein Enneagramm-Kollege Hans und ich nannten das später auch die Nicht-so-sondern-anders-Übung.

In der buddhistischen Psychologie von Jack Kornfield („das weise Herz“) fand ich genau dieses Vorgehen viel viel später unter der Überschrift „Karma auflösen“ ausführlich beschrieben – es heißt dort „heiliges Innehalten“.

Im Handeln Inne-Halten

Achtsames Innehalten ist sicher nicht der einzige Kunstgriff, um in den Gefangenschaften unserer eigenen Ich-Gefängnisse ein wenig Ausgang zu bekommen. Auf der Ebene des Handelns scheint es mir jedoch das Mittel der Wahl zu sein – immer dann, wenn weiteres Handeln nach den gewohnten Mustern nur „mehr-desselben“ erzeugen würde.

Das gewohnte Handeln kann jedoch auch ein Nicht-Handeln sein. Manche Menschen verfallen reaktiv in übermäßige Aktivität, andere in Passivität, sie gehen in Abwehr- oder Vermeidungshaltungen. Nicht-so-sondern-anders bedeutet bei diesen inneren „Strickmustern“ dann, kreative Aktivität entwickeln statt im Abwarten zu verharren.

Für jeden von uns bedeutet es etwas anderes, wenn Handeln und Nicht-Handeln im gelebten menschlichen Leben eins werden!

3 Kommentare zu “Achtsames Innehalten

  1. Liebe Marianne,

    beim Lesen deines hoch interessanten Artikels entstanden in mir noch folgende Einblicke: zwar fliesst das Leben dahin, driftet das Leben, doch ohne selbst gesetzte Grenzen sind wir reiner Grenzenlosigkeit (und damit auch einer Art Gefangenschaft) ausgesetzt. Ich setze mir also meine Grenzen bewusst, im Meer der Möglichkeiten, setze sie mir erst, nachdem ich innehalten konnte (nicht reaktiv) und mit wachsendem Verständnis und Bewusstsein setze ich sie dann gegebenenfalls neu. Dann wird auch das Innehalten selbst interssanter, dann wird, wie Rilke sagt, das Hiersein herrlich: ich setze dann Grenzen, nämlich aus Reife, nicht aus Erschöpfung, aus blitzgescheiter Aufmerksamkeit, nicht aus Überforderung, aus grosser Liebe und Mitgefühl, nicht aus dem Zucken eines überstrapazierten Egos.

    Dein Artikel regt zu eigenen Überlegungen an. Klasse und Danke.
    Gerd Klostermann

    • “ … ich setze dann Grenzen, nämlich aus Reife, nicht aus Erschöpfung, aus blitzgescheiter Aufmerksamkeit, nicht aus Überforderung, aus grosser Liebe und Mitgefühl, nicht aus dem Zucken eines überstrapazierten Egos.“

      Lieber Gerd,

      schön formuliert.

      Und: Ist es dann noch ein Grenzen-Setzen? Für mich fühlt es sich dann eher wie ein Herstellen der „stimmigen Distanz“ an.

      Liebe Grüße

      Marianne

  2. Liebe Marianne,

    stimmige Distanz und stimmiges Setzen von Grenzen. Ich kann gar nicht anders, denn jedes Bewusstsein, mag es noch so frei und weit sein, einmal in die Praxis gebracht, in Sprache, in Rituale und Tradition, in Symbole und Bilder, das kleinste Kreuseln ist ein Auftauchen aus der Leere und allgegenwärtiger Präsenz. Es bleibt zum Schluss nur noch ein Schweigen und ein sogenanntes „Verstehen“ erweist sich, so sagen die buddhistischen Weisen, als letzte grosse Illusion.

    🙂

    Gerd

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