Was mich bewegt …

Maria-Anne Gallen: Gedanken, Erfahrungen, Einsichten

Aversion

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Spinne

Foto: Peter Böni pixelio.de

Wenn meine (erwachsenen) Kinder eine Spinne sehen, dann kreischen sie sofort los und die Mutter muss kommen und das Tierchen ins Freie befördern. Früher tat ich das, indem ich sie in ein Marmeladeglas schubste und in den Wald trug – möglichst weit weg. Sie haben sich nie an diese Lebewesen gewöhnt, die reichlich in unserem Haus vorhanden waren, vielleicht deshalb?

Die so genannte »Spinnenphobie« ist in Deutschland nach statistischer Erhebung eine der weit verbreitetsten Ängste, angeblich leiden ca. 35% der Bevölkerung unter ihr. »Pfui Spinne« rufen wir manchmal, wenn wir uns spontan von irgendetwas abgestoßen fühlen oder uns ekeln. An ihr kann man den Automatismus der »Aversion« hervorragend studieren, der in der buddhistischen Psychologie als eine von drei »Wurzel-Verblendungen gilt.«                

Angst und Abwehr

Sigmund Freud erkannte seine berühmten Abwehrmechanismen als Angst-Reaktionen: Um eine tieferliegende Angst nicht spüren zu müssen und konflikthafte Tendenzen kontrollieren zu können, setzt – meist unbewusst – ein Automatismus ein, der die Wahrnehmung auf ein anderes Feld verlagert. Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung und wie sie noch alle heißen, werden im psychoanalytischen Modell auch als Ich-Funktionen bezeichnet. Sie »schützen« unser menschliches Ich.

»Aversion« bedeutet vom lateinischen Wortstamm her ein »(sich) Abwenden«. Der Buddhismus betrachtet sie als eine von drei »Wurzeln des Leid«. Die anderen beiden sind »Begierde« und »Verwirrung «(Unwissenheit). Es gibt dort auch eine Typologie, in der alle Menschen von ihrer Grundmotivation her von einer dieser drei Reaktionsbildungen besonders betroffen sind: Der Aversions-Typus, der Begierde-Typus und der Verwirrungs-Typus.

Selbsterkenntnis

Als mir diese Typologie vor einigen Jahren im Buch von Jack Kornfield über buddhistische Psychologie (»das weise Herz«) begegnete, fiel es mir nicht schwer, mich im Aversions-Typus zu erkennen. Wie es dann das Leben so wollte, geriet ich in eine Wohnsituation, in der ich meine »Aversions-Tendenzen« reichlich studieren und auch (teilweise) wandeln konnte: In unser Zweifamilienhaus zog eine acht-köpfige ausländische Großfamilie ein. Auf einen Schlag waren wir – zwei Ruhe-liebende Erwachsene reiferen Alters – umhüllt von Zigarettenrauch, ungewohnten Essensgerüchen, Lärm, Geschrei und einer Horde von Kindern, die nicht zur Rücksichtnahme auf andere Menschen angehalten werden. In den Ferien turnen sie auch nachts um 3 Uhr noch mit ihren FreundInnen im Treppenhaus herum.

Zunächst erlebte ich diese Situation als äußerst leidvoll und versuchte, mich zu wehren: Gegen Essensreste im Papiermüll, Übertritte gegen alle möglichen Ordnungs-Vorschriften, räumliche Grenzüberschreitungen und kleinere Eigentumsdelikte, bei denen immer wieder Gegenstände aus unserem Besitz verschwanden – Bierflaschen, Gartengeräte, Stromkabel, Werkzeug, Kosmetikartikel unserer Töchter. Meist waren diese Versuche nicht von Erfolg gekrönt – die fremdländische Übermacht war einfach zu groß und es kam immer wieder zu unerfreulichen Kollisionen.

Das Gedicht von Rumi begleitete mich in diesen Erfahrungen – es verheißt eine »Ausräumung zu neuen Wonnen«, wenn der Mensch sich solch uneingeladenen Gästen stellt:

Das Gasthaus

Das menschliche Sein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.

Eine Freude, ein Kummer, eine Gemeinheit,
ein kurzer Moment der Achtsamkeit kommt
als ein unerwarteter Besucher.

Heiße sie alle willkommen und bewirte sie!
Selbst wenn sie eine Schar von Sorgen sind,
die mit Gewalt aus deinem Haus
die Möbel fegt,
auch dann, behandle jeden Gast würdig.
Es mag sein, dass er dich ausräumt
für ganz neue Wonnen.

Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lächelnd an der Tür
und lade sie ein.

Sei dankbar für jeden, wer es auch sei,
denn ein jeder ist geschickt
als ein Führer aus einer anderen Welt.

Rumi

Der Aversion begegnen

Wie soll das nun aber in der Praxis gehen, solch unbequeme Lebenserfahrungen in einen »spirituell-wertvollen« Lernprozess umzuleiten? Am Beginn dieser über dreijährigen Erlebnisreise versprach mir ein buddhistisch-geschulter Freund, dass man sogar Ekel-Gefühle wandeln kann. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich immer die Luft an, wenn ich durch die Mischung von Zigarettenrauch und Essensgestank die Treppe in den 1. Stock zu unserer Wohnungstür zurücklegen musste.

Wenn die »ungebetenen Gäste« nicht hinausbefördert werden können, dann lade sie ein, sagt Rumi. Was heißt das praktisch? Tief einatmen, bis ein Gewöhnungseffekt einsetzt?

In der Selbsterforschung wurde vor allem der eigene Ärger zum Forschungsgegenstand. Er stieg einfach in mir auf, wann immer ich diesen Misslichkeiten nicht ausweichen konnte und steigerte sich teilweise bis zu einer ausgewachsenen Wut, vor allem, wenn ich wieder mal nachts nicht schlafen konnte oder frühmorgens von Zigarettenrauch im Schlafzimmer geweckt wurde. Ich beobachtete, wie er hochkroch und sich in einer impulsiven Handlung entladen wollte. Gelegentlich geschah das auch, was nur zu einer weiteren Eskalation des Geschehens führte.

Aus der Beobachtung des Ärgers entwickelte sich die Übung der Nicht-Reaktivität: Möglichst erstmal innehalten und impulsive Handlungen vermeiden. Diese Vorgehensweise reduzierte einerseit eindeutig die Häufigkeit der Zusammenstöße und bewirkte andererseits oft, dass sich inmitten äußeren Gegenwinds, innerlich eine tiefe Ruhe und Unerschütterlichkeit ausbreiteten.

Unseren Mitbewohnern schien diese Haltung allerdings zu signalisieren, dass »alles in Ordnung« ist und sie ruhig mit ihren gewohnten Verhaltensweisen ungebremst weiter machen können.

Was wandelt sich?

Zur Wandlung von äußeren Situationen sind solche Übungen offensichtlich nicht geeignet. Demnächst werden wir umziehen, in ein Einfamilienhaus mit deutlichem Abstand zu allen Nachbarn. Für unser Ruhebedürfnis, unsere Empfindsamkeit und Dünnhäutigkeit scheint das ein besseres Ambiente zu sein.

Jack Kornfield beschreibt für jeden der drei buddhistischen »Leid-Typen« eine besondere Form des Reifens und Dazu-Lernens. Beim Aversions-Typus nennt er sie »das versöhnliche Herz«.

Ich machte mir ein wenig Sorgen um die Nachfolger, die in unsere Wohnung einziehen würden: Wer kann so eine Lebenssituation überhaupt aushalten? Als die erste Besichtigung stattfand, stellte ich mit großer Erleichterung fest, dass das Ehepaar, dass da am Gartenzaun wartete, offensichtlich sowohl ausländischer Herkunft war als auch rauchte. Ein richtiger Stein plumpste dann von meinem Herzen, als mir die Matriarchin des fremdländischen Clans erzählte, dass eine Freundin mit Mann und drei Kindern die Wohnung hier übernehmen würde.

»Das versöhnliche Herz«

»Das versöhnliche Herz« verzeiht den Menschen alles, sofort! Es weiß um die Abgründe des Mensch-Seins, um unsere Unzulänglichkeiten und die Möglichkeiten des Scheiterns. Aus diesem tiefen Wissen und Mitempfinden heraus, muss es die Fehler anderer nicht mehr bekämpfen. So darf sich Aversion in Verzeihen verwandeln.

***

8 Kommentare zu “Aversion

  1. Danke Marianne, doch das Verzeihen ist in dieser deiner schönen Geschichte auch mit der Möglichkeit gekoppelt, sich entziehen oder umziehen, sich also bewegen zu können. Höheres Bewusstsein braucht eine andere Umgebung, sorgt selbst automatisch dafür, sucht zB die Stille. So seid ihr nach 3 Jahren Lernerfahrung (endlich) weggezogen oder weitergegangen, habt Euch bewegt. Wunderbar!

    Inwieweit allerdings ein versöhnliches Herz z.B. Rücksichtslosigkeiten tolerieren sollte, wäre wohl eine ganz andere und besonders zentrale Frage, oder? Aversion muss ja nicht aus den 3 Geistesgiften resultieren, muß ja auch nicht brüsk und reaktiv sein oder gar das sogenannte Ego schützen. Vielmehr scheint sie in ihrer aufgeklärten Form (!) dabei zu helfen, auf Kurs zu bleiben und sich nicht unnötig in das zu verstricken, mit dem nur bedingt Versöhnung stattfinden sollte.

    Bei Spinnen allerdings muss Aversion keinesfalls sein.

    🙂

    Gerd

    • Inwieweit allerdings ein versöhnliches Herz z.B. Rücksichtslosigkeiten tolerieren sollte, wäre wohl eine ganz andere und besonders zentrale Frage, oder? Aversion muss ja nicht aus den 3 Geistesgiften resultieren, muß ja auch nicht brüsk und reaktiv sein oder gar das sogenannte Ego schützen. Vielmehr scheint sie in ihrer aufgeklärten Form (!) dabei zu helfen, auf Kurs zu bleiben und sich nicht unnötig in das zu verstricken, mit dem nur bedingt Versöhnung stattfinden sollte.

      Ja Gerd, da sprichst du dankenswerterweise die Kehrseite der Medaille an, die ja auch in jeder Charaktertypologie enthalten ist. Jack führt die Gaben der „Aversions-Natur“ in seinem Buch auch ziemlich ausführlich aus: Es sind die „Verbesserer“ unter uns, diejenigen, die Missstände benennen und helfen können, wenn Reformen und Veränderungen anstehen.

      Mit herzlichem Gruß
      Marianne

  2. Gestern wurde ich zu diesem Thema noch auf folgendes Video mit E. Tolle aufmerksam gemacht:

    Da scheint mir einer verstanden zu haben, was „Überwindung des Leids“ wirklich bedeutet.

    • Ist es nicht so, dass das Bewusstsein, welches ich ja selber bin, ganz Ja zu diesem Moment sagen kann? Wenn das so ist, dann kann ein solches Bewusstsein als Transparenz in Freiheit im nächsten Moment aber auch ganz Nein sagen, und zwar nicht aus Widerstand und Angst (Unfreiheit), sondern aus der tief empfundenen Einsicht, ganz auf Kurs, ganz eins mit seiner Aufgabe, mit seinem Tun in der Soheit zu sein. Ein solches Nein produziert dann kein Leid, es kommt aus keiner langen Geschichte oder Selbstinszenierung, denn das Ich als Bezugsystem ist verschwunden. Leid und dauerhafte Schmerzen haben wohl immer auch etwas mit einem unaufgeklärten Ich zu tun.

      Es besteht ohne bewusstes Nein die Gefahr, zum Treibgut der Situation zu werden, oder?

      🙂

      Gerd

      • Es besteht ohne bewusstes Nein die Gefahr, zum Treibgut der Situation zu werden, oder?
        🙂

        surfen

        Fahren wir selbst, oder werden wir getrieben?

      • Genau, das gilt fürs Ja wie fürs Nein!

        🙂

  3. Nun, man lernt Duldsamkeit, wenn man unter die Rüpel fällt. Man lernt ebenso zu dissoziieren. Man erfährt, wie man seine Grenzen weiter spannt. Ja, man erfährt ebenso, wie einem die eigenen Idiosynkrasien gefährlich, weil schmerzlich werden, und man lernt dabei, das eine oder andere zu lösen. Und wenn das ganze noch gut fürs Karma sein soll, dann rollen wir den Stein, bis er von selbst Bewegung aufnimmt und uns enteilt.
    Meine Empfehlung für gute Nachbarschaft, wenigstens 343 m in alle Himmelsrichtungen vom nächsten Nachbarn entfernt den Grundstein setzen; dann lebt man wenigstens eine Schallsekunde auseinander.
    Das wäre mein Traum.
    Gruß Matthias

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